27. Februar 2025
Wahlrechtsreform
Eine Analyse zur Debatte, ob die Wahlrechtsreform "ungerecht" oder gar "undemokratisch" ist: CDU und CSU wollen ihre Pfründe sichern und wollen dafür eine Verzerrung des Wahlergebnisses in Kauf nehmen - und die Konterkarrierung der überfälligen Verkleinerung des Bundestags.
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Ein Kommentar zur Wahlrechtsreform des Deutschen Bundestages</h3>
von Michael Wechsler, Politikwissenschaftler M.A. und wissenschaftlicher Mitarbeiter von MdB Dr. Nils Schmid (April 2023)
Die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition ist überfällig, zeitgemäß und weitestgehend gerecht. Sie orientiert sich an einem sachlichen Ziel – ganz im Gegensatz zu der Diskussion, die ihre Gegner führen, die nur ihre eigenen Interessen im Blick haben.
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1. Zu viele Abgeordnete</h4>
736 Abgeordnete im Deutschen Bundestag sind zu viele. Punkt. Das Hauptargument, das hierfür in der öffentlichen Debatte außerhalb des Parlaments zumeist vorgetragen wird, ist allerdings kritisch zu sehen. Es geht nicht in erster Linie ums Geld. Eine Demokratie kostet Geld und darf auch welches kosten, wenn ihre Strukturen und Gremien effizient sind. 0,2% des Bundeshaushaltes gehen auf das Konto des Parlamentes. Es liegt auf der Hand, dass ein kleineres Parlament auch weniger kostet – Mitarbeiter, Verwaltung, Büromieten, Besuchergruppen – es kommt einiges zusammen, wobei die Diäten noch am geringsten ins Gewicht fallen. Das Argument ist aber gefährlich, weil Antidemokraten es bei 600 oder 500 Volksvertretern immer noch genauso vortragen. Nebenbei bemerkt: Diktaturen oder Autokratien sind – ganz abgesehen von den unendlichen anderen Schäden – als Staatsform viel teurer, nur ist das nicht so offensichtlich und vor allem wird nicht darüber gesprochen und berichtet – Ämterpatronage, Korruption und staatliche Misswirtschaft sind dort aber besonders ausgeprägt. Gerade parlamentarische Demokratien bieten davor den besten Schutz, zumal dann, wenn das Wahlrecht – wie bei uns – in der Regel für schlagkräftige Oppositionen und Koalitions-Regierungen sorgt.
Auch geht es nicht um populistische Vergleiche nach dem Motto „Zweitgrößtes Parlament der Welt nach China“. Wenn man die Zahl der Volksvertreter pro Einwohner bemisst, schneidet Deutschland ähnlich ab wie Großbritannien oder Frankreich, zwei altehrwürdige europäische Demokratien.
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Doch der derzeitige 20. Bundestag zeigt, wie sehr ein Parlament, das im Verhältnis zu seiner Sollgröße (598 Abgeordnete) überdehnt ist, organisatorisch an seine Grenzen stößt. Es beginnt schon beim Plenarsaal, in den notdürftig Klappstühle eingebaut werden mussten. Aber insbesondere der enorme Platzbedarf für die Abgeordnetenbüros samt deren Mitarbeitern, dazu noch die steigenden (Personal-)Ansprüche an die Bundestagsverwaltung bis hin zu scheinbaren Kleinigkeiten wie den Fahrdiensten und so weiter, sind kaum zu bewältigen. Dies gilt umso mehr, als die Zahl der Abgeordneten von Legislatur zu Legislatur auch noch variiert. Es ist wahr, dass die Aufgaben der Abgeordneten wie auch der Fraktionen komplexer werden und die Augenhöhe mit den Ministerien mitunter schwer zu halten ist. Doch kann man nicht erkennen, dass die Arbeit des größeren Parlaments auch schlagkräftiger wird. Wohl eher im Gegenteil dürften größere Gremien stringente Diskussions- und Entscheidungsprozesse erschweren. Bei einer festen Größe passen sich künftig alle Akteure sowie die Strukturen an. Die Verwaltung dürfte besonders laut aufatmen. Nach der Wahl kann der Einstieg in die politische Arbeit dann deutlich schneller vonstattengehen.
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2. Die Verhältniswahl ist das richtige Modell für Deutschland</h4>
Die Erfahrungen aus der Weimarer Republik – und nicht zuletzt aus deren Ende – haben die demokratischen Grundstrukturen der Bundesrepublik Deutschland entscheidend geprägt. Anders als in anderen parlamentarischen Demokratien, hat sich in Deutschland das Prinzip der Verhältniswahl als dominierendes Element für die Zusammensetzung der Volksvertretung durchgesetzt und bewährt. Verkürzt dargestellt haben zwei Faktoren eine wesentliche Rolle gespielt, weshalb die Parteien-Verhältniswahl in der Bevölkerung breite Akzeptanz erfährt und im Großen und Ganzen als „gerecht“ empfunden wird. Zum einen genießen die Parteien Verfassungsrang und damit eine besondere Verantwortung und Stellung in der bundesrepublikanischen Politik. Sie und ihre Kanzlerkandidaten stehen im Fokus, nicht so sehr einzelne Abgeordnete.
[2] Dies ist geübte Praxis, deren Wurzeln bis an die Anfänge deutscher Demokratiebewegung im Kaiserreich zurückreichen. Zum anderen hat das System gesellschaftliche Bewegungen - vom Bildungsaufbruch der 68er, über die ökologische bis hin zu rechtspopulistischen, die man höchst unterschiedlich bewerten wird, aber nicht ignorieren kann – auch im Parlament abgebildet. In der Konsequenz sind Koalitionsbildungen, das Zusammenspiel mit dem Bundesrat, die eher repräsentative Rolle des Bundespräsidenten usw. gut eingeübte Praxis, die sich entlang der Leitplanken des Grundgesetzes weiterentwickelt und gefestigt hat. Das i-Tüpfelchen ist die 5%-Hürde, die eine übermäßige Fraktionierung des Bundestags verhindert. Nicht umsonst gilt Deutschlands Verfassung als eine der modernsten weltweit – sie funktioniert einfach gut.
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3. Das Direktmandat wird überhöht</h4>
Demgegenüber hat das Direktmandat – anders als zum Beispiel in Großbritannien – eine untergeordnete Rolle, nicht nur in der Verfassung, sondern auch in der Wahrnehmung der Wählerschaft. Neuere Entwicklungen bekräftigen das auch auf Basis von Zahlen. Während die etablierten Volksparteien CDU und SPD an Zuspruch verlieren, gewinnen andere dazu, in letzter Zeit vor allem die Grünen, insbesondere im Osten die AfD. In der Folge liegen die Parteien dichter beieinander, was in einzelnen Wahlkreisen zu denkbar knappen Ergebnissen führt. So gibt es aktuell direkt gewählte Abgeordnete, die sogar mit weniger als 20% obsiegten
[3]. In anderen Wahlkreisen haben Zweitplatzierte deutlich höheren Zuspruch
[4]. Was sagt das über deren politisches Gewicht im Bundestag aus? Nichts. Selbst die über 45% Erststimmen für Karl Lauterbach dürften nicht ausschlaggebend gewesen sein, dass er zum Gesundheitsminister ernannt wurde, sondern seine prononcierte Expertise während der Corona-Pandemie.
Und vom Bürger aus gedacht: Was nützt es mir, wenn mein Wahlkreis zwar von einem Abgeordneten im Bundestag vertreten wird, anstatt von keinem, dieser aber eine gänzlich andere Politik vertritt als ich es mir wünsche und als ich gewählt habe? Nichts. Dies gilt nicht nur in Bezug auf gesamtgesellschaftliche Fragen, sondern auch für solche, die spezifisch meinen Wahlkreis betreffen. Ein konkretes Beispiel: Wenn ein Bundestagsabgeordneter der Union durchsetzt, dass eine von der Mehrheit der Bevölkerung (und der meisten Anrainer-Kommunen) abgelehnte Umgehungsstraße in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans kommt, weil seine Klientel (von vielleicht 30% der Wählerschaft) das befürwortet, dann ist das zwar legitim, aber wohl kaum ein Ausdruck des demokratischen Willens eines Wahlkreises. Es hat nichts mit seinem Direktmandat zu tun, sondern entspringt seiner parteipolitischen Orientierung oder Grundüberzeugung. Demgegenüber haben Abgeordnete, die herausragende Verdienste erworben haben, wie zum Beispiel der Träger des Alternativen Nobelpreises, Dr. Hermann Scheer (V) für den Ausbau der erneuerbaren Energie, niemals auch nur entfernt ein Direktmandat gewonnen. Zahllose andere, die über ihre jeweilige Landesliste in den Bundestag eingezogen sind, haben sich Verdienste für ihren Wahlkreis erworben – oder für ihren Betreuungs-Wahlkreis, indem sie sich z.B. für die Förderung konkreter Projekte starkgemacht haben. Das ist fast politischer Alltag eines Abgeordneten. Ich kenne kein Beispiel, bei dem dabei die Frage des Direktmandats eine Rolle gespielt hätte; die Frage, ob Abgeordnete einer Regierungspartei angehören, hingegen schon. Und in vielen Fällen tun sich die Abgeordneten eines Wahlkreises parteiübergreifend zusammen, wenn es um die Beförderung eines lokalen Interesses geht, wie zum Beispiel die Aufnahme einer Gemeinde in ein bestimmtes Förderprogramm. Auch dabei macht nicht das Direktmandat den Unterschied, sondern Faktoren wie Regierungszugehörigkeit, Vernetzung mit relevanten Akteuren oder schlichtweg das Beherrschen des politischen Geschäfts, wie das Verstehen von parlamentarischen oder exekutiven Prozessen und Gremien.
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4. Das Problem angeblich „verwaister“ Wahlkreise</h4>
Auch wenn das Direktmandat aus leicht durchschaubaren Gründen in der Debatte um die Wahlrechtsreform völlig überhöht wird, sollte nicht verschwiegen werden, dass es tatsächlich problematisch wäre, wenn bestimmte Akteure - z.B. Kommunen – gar keinen offiziellen Ansprechpartner im Bundestag hätten. Doch wäre dem wirklich so? Richtig ist, dass es passieren kann, dass ein Wahlkreis keinen Abgeordneten hat. Das wäre dann der Fall, wenn eine Partei mehr Direktmandate (per Erststimmen in den jeweiligen Wahlkreisen) gewinnt als ihr nach dem Ergebnis (der Zweitstimmen) im Verhältnis zustehen. Dann fallen diejenigen Kandidaten mit den schlechtesten (Prozent-)Ergebnissen raus. Gleichzeitig dürfte in diesen Wahlkreisen auch kein anderer Kandidat über die jeweilige Landesliste seiner Partei in den Bundestag einziehen. Würde man das neue Wahlrecht auf das letzte Ergebnis von 2021 anwenden – und zwar bei einer Gesamtzahl von 598 Abgeordneten – hätte dies fünf der 299 Wahlkreise betroffen (entspräche 1,7% der Wahlkreise bundesweit). Durch die Erhöhung von 598 auf 630 feste Sitze, wäre die Gefahr bereits weiter reduziert. Viel entscheidender ist aber, dass die Parteien ja meist ziemlich genau wissen, in welchen Wahlkreisen mit knappen Ergebnissen zu rechnen ist. Sie könnten dies künftig also bei ihren Listenaufstellungen berücksichtigen und das Risiko so weiter verringern. Denn es wäre ja gerade für eine kleinere Partei eine verlockende Option, auf diese Art möglicherweise die „Alleinvertretung“ in einem Wahlkreis zu erhalten.
Auch das aktuelle Wahlrecht kann derweil dazu führen, dass ein Wahlkreis verwaist. Durch den Mandatsverzicht von Heiko Maas (SPD) im Wahlkreis Saarlouis rückte am 1.1.2023 die „wahlkreislose“ Emily Vontz von der Landesliste der Saar-SPD nach. Ein Einzelfall, gewiss. Aber es wird auch künftig bei Einzelfällen bleiben.
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5. Grundmandatsklausel</h4>
Eher ein Randthema der Debatte um die Wahlrechtsreform war die sogenannte Grundmandatsklausel, wonach eine Partei auch dann in voller (Prozent-)Stärke in den Bundestag einzieht, wenn sie unter der 5%-Hürde landet, aber in mindestens drei Wahlkreisen das Direktmandat gewinnen kann. Tatsächlich kann man argumentieren, dass die 5%-Hürde eine Beschränkung ist, die als Ausnahme gerechtfertigt sein muss. Die Mehrheit in mindestens drei Wahlkreisen deutet schon auf eine Relevanz hin, die über die reine Bedeutung einer einzelnen Persönlichkeit hinausgeht.
Dass das Thema in der öffentlichen Debatte weit weniger diskutiert wird, obwohl es eigentlich viel streitbarer wäre, spiegelt wohl die Mehrheitsverhältnisse im Land wider: Die CDU hat hieran kein Interesse, während die betroffene Linke nur einen geringen Rückhalt genießt – von wenigen Bezirken im Osten Deutschlands und vor allem Berlins abgesehen. Lediglich die Kuriosität, dass die CSU bundesweit gemessen weniger als 5% erzielen könnte, hat zu einem kurzen Aufflackern geführt.
Dennoch haben unabhängige Experten bei den Beratungen über die Wahlrechtsreform den Wegfall der Grundmandatsklausel empfohlen. Ihr Argument ist durchaus schlüssig, denn wenn es einer Partei gelingt, drei Direktmandate zu gewinnen, zieht sie mit mehr als nur den drei Abgeordneten in den Bundestag ein: nämlich in voller Prozent-Stärke. Damit wird entweder die festgelegte Obergrenze doch noch durchbrochen (ein nicht ratsamer Systembruch) oder die Mandate der anderen Parteien müssten entsprechend vermindert werden, was die eingangs erwähnte Planungssicherheit verringert. Nach meinem Dafürhalten sollte man Letzteres aus politischen Gründen in Kauf nehmen. In der parlamentarischen Demokratie geht es bei Wahlen immer auch um die Wahrung von Chancen von Minderheiten. Die 5%-Hürde ist eine notwendige effizienzsteigernde Maßnahme, die Grundmandatsklausel deren relativierende Einschränkung.
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6. Repräsentanz, Bürgernähe und Wahlkreisgröße</h4>
Doch noch einmal zurück zum scheinbaren Problem der fehlenden Repräsentanz eines Wahlkreises in Berlin. Schon jetzt ist es beispielsweise in der SPD-Fraktion so geregelt, dass Wahlkreise ohne SPD-Abgeordnete von den anderen SPD-MdBs mit betreut werden. Aus der Praxis kann ich zudem berichten, dass Bürgermeister mit ihren Anliegen an die Bundespolitik gerne an alle Parteien herantreten - neben den Abgeordneten ihres Wahlkreises dann eben auch an die der anderen Parteien aus den Nachbarwahlkreisen. Das ist nachvollziehbar, vor allem dann, wenn man auf diese Weise sicherstellt, dass dann auch Mitglieder der Regierungsfraktionen im Boot sind.
Praktischen Anschauungsunterricht kann man sich übrigens auch schon im derzeitigen Wahlsystem nehmen. Im Wahlkreis Nürtingen hat der direkt gewählte Abgeordnete Michael Hennrich (CDU) den Bundestag aus freien Stücken verlassen, um eine Tätigkeit als Verbandsvertreter im Gesundheitswesen zu übernehmen. Es darf bezweifelt werden, dass er im Wahlkreis (politisch) übermäßig vermisst wird, außer von der eigenen Parteibasis natürlich. Bei überparteilichen Diskussionsrunden kommt eben ein Vertreter der Union aus einem Nachbarwahlkreis. Bürgermeister, Verbände und Bürger wenden sich mit ihren Anliegen an die anderen Abgeordneten des Wahlkreises, was sie auch schon vorher taten. Dass diese im genannten Fall den drei Regierungsparteien angehören, ist für die Absender von weitaus größerer Relevanz als die Tatsache, dass sie „nur“ über ihre jeweilige Landesliste in den Bundestag eingezogen sind. Und wenn sie sich doch einmal direkt an die CDU wenden wollen, dann finden sie Abgeordnete wiederum in den Nachbarwahlkreisen – auch das ist schon jetzt ein völlig normaler Vorgang, denn sonst müsste ja jede Partei in jedem Wahlkreis vertreten sein. Da das Phänomen nur bei Parteien greift, die im jeweiligen Bundesland besonders viele Direktmandate erringen können, dürfte der nächste Abgeordnete nicht weit entfernt sein.
Im Vergleich dazu wird offensichtlich, was die größte Schwäche des Gegenvorschlags der Union ist, nämlich größere Wahlkreise zu bilden. Es gibt hier gleich drei Schwachstellen.
Erstens: Die Abgeordneten wären für die meisten Bürgerinnen und Bürger im wahrsten Sinne des Wortes weiter weg. Größere Wahlkreise bedeuten größere Entfernungen, zum Beispiel zum nächsten Wahlkreisbüro, und mehr zu betreuende Gemeinden und wahrzunehmende Termine aus Sicht der Abgeordneten. In vielen Fällen würden die Wahlkreise sich dann mit weiteren Gebietskörperschaften (z.B. Landkreisen) überschneiden und so die Ansprechpartner und Interessenvertretungen vervielfachen. Wozu liegt dann – aus Sicht von Bürgern, Kommunen oder Organisationen – der Unterschied dazu, wenn man sich an den Nachbarwahlkreis wenden muss? Schon jetzt gibt es in dünner besiedelten Landstrichen enorm große Flächen-Wahlkreise. Man muss sich nur einmal den größten Wahlkreis 017 „Mecklenburgische Seenplatte II – Landkreis Rostock III“ anschauen. Er ist fast zweieinhalb Mal so groß wie das Saarland und misst von Ost nach West und Nord nach Süd jeweils an die 100 Kilometer – schon jetzt!
Zweitens: Wahlkreise müssen ungefähr gleich groß sein – und zwar nach Zahl der Wahlberechtigten, nicht nach Fläche. Mögliche Abweichungen sind klar gesetzlich vorgegeben. Es wäre also nicht mit der Auflösung einiger Wahlkreise getan, die dann eventuell nach sinnvollen Zusammenhängen, z.B. innerhalb von Landkreisen, zusammengelegt würden. Vielmehr müssten sehr viele Wahlkreise insgesamt neu zugeschnitten werden, was zweifellos zahlreiche Verwerfungen mit sich bringen würde. Schon heute kann man sehen, wie sehr Bürger damit „fremdeln“, wenn sie einem Wahlkreis angehören, der keine sonstigen politischen Schnittmengen (z.B. Landkreiszugehörigkeit) aufweist.
Drittens: Die Vergrößerung von Wahlkreisen kann nicht gewährleisten, dass künftig die Sollgröße eingehalten wird. Auch weiterhin wird es auf die jeweilige Konstellation des Wahlergebnisses ankommen – mit allen Schwankungen und der Möglichkeit, dass das Parlament die Sollgröße überschreitet, sowie allen Folgen für die eingangs beschriebenen Probleme. Damit verfehlt der Vorschlag das Hauptziel der Reform!
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Fazit</h4>
Nennen wir die Dinge beim Namen: Die Union hat in den vergangenen Jahrzehnten überproportional vom bestehenden Wahlrecht profitiert, indem sie Überhangmandate erhalten hat. Das hat konkret zusätzliche Mandate für CDU und CSU eingebracht, vor allem aber hat es die Ergebnisse der Verhältniswahl, wenn auch nur leicht, zu ihren Gunsten verschoben. Wenn man betrachtet, wie knapp zum Teil bei vergangenen Bundestagswahlen der Wahlausgang war, wer also mithin die stärkste Fraktion stellt, dann wird klar, dass auch eine minimale Verschiebung großen Einfluss haben kann. Vom eher normativen, politischen Anspruch abgesehen, als stärkste Fraktion erster Ansprechpartner für die Regierungsbildung zu sein, ist es bei der Besetzung zahlreicher Ämter, beginnend beim Parlamentspräsidenten, faktisch materiell. Darum geht es der Union – nicht um Bürgernähe oder einer wie auch immer daher konstruierten Wertschätzung des Wählerwillens, der sich im Direktmandat manifestieren würde. Dieser äußert sich in erster Linie durch die Zweitstimme. Und bei der Erststimme insofern als sich weiterhin in den allermeisten Wahlkreisen diejenigen freuen dürfen, die die meisten Stimmen erringen - gerecht ist es daher auch, dass diejenigen mit den knappsten Ergebnissen rausfallen.
Obwohl der Druck aus der Bevölkerung nach einer Verkleinerung des Bundestages groß war, hat die Union über Jahre hinweg jede Reformbemühung torpediert. Ihre Gegenvorschläge, ob „Schäuble-Modell“, „Graben-Wahlrecht“ oder „CSU-Modell“, haben im Kern immer darauf abgezielt, Überhangmandate zu behalten und die Begünstigung der Union zu bewahren. Das ging so weit, dass manche Modelle durchaus realistisch prognostizierten, dass die Union mit etwa 30 % der Zweitstimmen die absolute Mehrheit der Sitze erringen könnte – eine massive Verzerrung des Wählerwillens.
Die Aussage von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt kann man da nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen:
«Ich halte das nach wie vor für eine der größten Dreistigkeiten, die es überhaupt gegeben hat in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten: ein Wahlrecht sich zu zimmern, zu manipulieren, um den eigenen Machtanspruch zu festigen und damit die Demokratie auch zu schwächen.» (Die ZEIT, 09.10.2023) Da schließt man in der CSU wohl von sich auf andere.
[1] Ich habe bewusst zwei ähnliche (große) Länder genannt, weil der Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen zwar sehr beliebt, aber nicht zielführend ist. Er geht übrigens in beide Richtungen: Deutschland hat etwa 10 Mal so viele Einwohner wie die Schweiz, aber „nur“ 3,7 Mal so viele Bundestagsabgeordnete wie Schweizer Nationalräte (absolut: 200).
[2] Beispielhaft zeigt das der weit verbreitete Slogan: „Zweitstimme ist Kanzlerstimme“.
[3] Wahlkreis „Dresden II – Bautzen II“: Lars Rohwer (CDU), 18,6% der Erststimmen
[4] Z.B. im Wahlkreis Hochsauerlandkreis: Dirk Wiese (SPD), 32,2% der Erststimmen, hinter Friedrich Merz (CDU), 40,4%.
[5] Nachtrag: Bei der Bundestagswahl vom 23.02.2025 blieben lediglich 4 von 299 Wahlkreisen unbesetzt (1,3%).
[6] Nachtrag: Mit der Entscheidung des BVerfG vom 30. Juli 2024 wurde der Wegfall der Grundmandatsklausel als grundgesetzwidrig eingestuft, begründet mit eben jener Kopplung an die 5%-Hürde. Genauer gesagt wurde die 5%-Hürde als problematisch beurteilt, jedoch hinnehmbar mit dem ausgleichenden Faktor der Grundmandatsklausel.